Der Weg zurück zur Universität verläuft zur Abwechslung ohne Komplikationen. Nach kurzer Zeit schafft ihr es auch, die ewigen Streitereien von Alyssa und Valken auszublenden. Während es zuerst noch ganz amüsant anzuhören war, verwandelt sich ihr Gezanke relativ schnell in ein ermüdendes Wortgefecht, und so kühl und angenehm die Nachtluft auch ist, sie schafft es nicht, den Alkohol ganz aus eurem Geist zu vertreiben.
Letztendlich erreicht ihr jedoch das große Gebäude. Während eure Begleiter geradewegs auf den Eingang zugehen, stockt ihr. Mag sein, dass ihr schon viel gesehen habt, mag sein, dass ihr schon mehr als einmal an der Schwelle des Todes standet, doch irgendetwas, irgendetwas ist anders, anders als zuvor. Kann es euer vom Alkohol getrübter Geist sein? Seht ihr etwa schon Gespenster? So ruhig und genau wie in eurem Zustand nur möglich lasst ihr eure Blicke prüfend über das imposante Bauwerk schweifen; auch wenn ihr keine Veränderung erkennen könnt, so spürt ihr doch, dass hier etwas anders ist – dass hier etwas nicht stimmt.
„Wollt Ihr hier Wurzeln schlagen?“
Verwundert wendet ihr euch der Stimme zu und seht Valken vor euch stehen, der schmunzelnd in Richtung der Universität zeigt.
„Der Alkohol war wohl zu viel, mh? Naja, keine Sorge, jeder verträgt dies auf seine Weise. Wie versprochen hab’ ich was für Euch, kommt einfach mit.“
Mit diesen Worten macht der junge Mann kehrt, um die Universität zu betreten. Nach kurzem Zögern folgt ihr ihm.
Im Inneren des Gebäudes verfliegt euer Gefühl allerdings nicht, ganz im Gegenteil sogar. Während die hohen Hallen und die vielen Gemälde bei Tag noch majestätisch und ehrfurchtgebietend gewirkt haben, so scheinen sie jetzt gespenstisch und düster. Ihr spürt die Blicke verstorbener Würdenträger von den Wänden wie Blei auf euch lasten und die Schatten, die das Mondlicht durch die Fenster wirft, scheinen mal wie die Geister kleiner Kinder umherzutanzen, nur um dann wieder still und gewöhnlich darniederzuliegen. Valken scheint dies alles entweder nicht zu bemerken oder nicht zu kümmern, er beginnt sogar, leise vor sich hin zu summen, und führt euch dann an Hörsälen und Bibliotheken vorbei in den hinteren Bereich der Universität.
Ihr merkt rasch, dass ihr nun den Teil des Gebäudes verlassen habt, der für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Hier und da fehlt etwas Wandputz, es gibt keine Gemälde mehr und die Vorhänge wurden wohl vor Ewigkeiten das letzte Mal gewaschen. Der Bodenbelag ist alt und knarrt, und ihr traut euren Augen nicht, als ihr in der Dunkelheit eine Ratte vorbeihuschen seht.
„Forschung ist gut und fein, doch solange sie kein Geld erbringt, solange wird für sie auch keins ausgegeben … ein ewiger Teufelskreis.“
Valken scheint eure Gedanken wohl erraten zu haben; auch wenn seine Lippen immer noch ein entspanntes Lächeln zeigen, sprechen seine Augen diesmal eine andere Sprache. Letztendlich führt er euch in ein kleines Zimmer, welches mittlerweile von Kerzenschein erhellt ist. Es muss sich hierbei wohl um das Arbeitszimmer handeln, von dem Alyssa gesprochen hat, denn ihr findet sie dort auf der Kante eines Schreibtisches sitzen, die Beine locker übereinandergeschlungen, ihre Augen in ein Buch vertiefend. Der Umstand, dass sie nun eine kleine, feine Brille auf der Nase trägt und ihr Blick zum ersten Mal dem einer Gelehrten gleicht, entlockt dem einen oder anderen von euch ein amüsiertes Kichern, was sie aufsehen und leise seufzen lässt.
„Ich weiß, das passt nicht zu mir, mh?“
„Ah, komm schon, ich finde, die Brille steht dir nicht schlecht“, wirft Valken ein, während er in einer Kiste kramt und euch dann mehrere Fläschchen reicht.
„Wie schön, dass es dir gefällt – wie du weißt, richte ich mein ganzes Aussehen, nein, mein ganzes Leben nach dir“, lässt sich Alyssa vernehmen, wenn auch nicht mehr so süffisant und gereizt wie zuvor. Ein weiteres Mal ist es an euch, einen Blick zu wechseln, was nun Valken dazu bringt, leise aufzulachen und es sich in einem Ohrensessel gemütlich zu machen.
„Habt Ihr schon einmal von den Valak gehört?“
Verwundert blickt ihr zu Alyssa und denkt kurz nach, ehe ihr ratlos die Köpfe schüttelt. Sie nickt nur knapp, offensichtlich nicht überrascht, und gleitet dann in einer anmutigen Bewegung vom Tisch.
„Ich bin nicht überrascht. Die meisten Gelehrten hier halten sie für einen Mythos, einige unter ihnen wollen sie und ihre Taten sogar den Elfen zuschreiben – was für eine lächerliche Idee!“, seufzt sie sichtlich genervt, während sie im Zimmer vor euch auf- und abgeht. "Die Valak waren eine der größten und mächtigsten Zivilisationen, die diese Welt gesehen hat, sogar unsere heutige Sprache hat klare Überschneidungen mit der ihren. Dennoch gibt es heute im Grunde niemanden mehr, der etwas von ihnen gehört hat. Ich frage Euch: Wie kommt das?“
Ihr überlegt einen Moment, doch noch bevor ihr etwas sagen könnt, richtet sich Valken in seinem Sessel ein wenig auf und sieht euch ruhig an.
„Alyssa ist der Ansicht, dass irgendein gewaltiges Unglück die Valak heimgesucht hat, ein so unglaubliches Unglück, dass sie quasi von heute auf morgen aus der Geschichte getilgt wurden und ihre Überreste in alle Winde zerstreut worden sind.“
Eines müsst ihr an dieser Stelle Valken lassen: Er verfügt über eindrucksvolle Reflexe, denn es ist wahrlich nicht so leicht, einem Buch auszuweichen, wenn man in einem Sessel sitzt und nicht damit rechnet, dass man gleich damit beworfen wird.
„Stell’ mich hier nicht wie eine Närrin dar!“, faucht ihn Alyssa an und baut sich wütend vor ihm auf, die Hände in die Hüften gestemmt.
„Dein Onkel glaubt in jedem Fall an meine Theorien, sonst hätte er mich nicht gefördert – und du hast genug der Fundstücke gesehen, um zu wissen, dass ich recht habe!“
Mit einem Satz ist Valken nun auf den Füßen, und zum ersten Mal seht ihr den jungen Mann offensichtlich verärgert, als er den Blick der Halbelfe fest erwidert und sein Gesicht nur wenige Fingerbreit vor das ihre bringt.
„Ich habe nie gesagt, dass es dort nicht etwas gibt, aber ich sehe auch weiterhin nicht den Nutzen dieser ganzen Sache! Außerdem muss ich nun seit über einem Jahr hier rumhängen und kann mich nicht meiner eigenen Arbeit widmen – und wofür das Ganze? Ein paar alte Abschriften? Tonscherben? Erzählungen von ein paar Irren, die aus dem Norden wiedergekommen sind? Dass es dort wirklich noch etwas gibt? Ich bitte dich, Alyssa, wach’ auf, was soll es dort noch geben, für das es sich wirklich lohnt, etwas aufzuziehen?“
Im Grunde seid ihr euch sicher, dass nun wieder eine Hand den Weg in ein bestimmtes Gesicht finden wird, doch zu eurer Überraschung sieht ihn Alyssa nur kurz an und hebt dann leicht ihr Haupt.
„Nun, wenn du das so siehst, dann sollten wir uns doch einmal die letzten Fundstücke ansehen, nicht wahr? Ich denke, dann wirst du deine Meinung ändern. Ihr kommt doch sicher auch mit, oder?“
Mit diesen Worten verlässt sie das Arbeitszimmer und lässt euch mit Valken zurück, welcher leise seufzt und dann zu euch sieht.
„Wisst ihr was, tun wir ihr den Gefallen, dann ist sie still und ich habe meine Ruhe. Vor morgen komme ich ohnehin nicht an meine Wertsachen heran, also kann ich Euch auch noch nicht für den Aufwand in der Taverne entschädigen – abgesehen davon kann ich Euch versprechen, dass Ihr zumindest eine tolle Sache sehen könnt.“
Schmunzelnd winkt er euch mit sich und schulterzuckend folgt ihr ihm. Euer Weg führt euch einige schäbige Gänge weiter durch die hinteren Bereiche der Universitätsanlage, und ihr fragt euch, wie groß dieses Gelände wirklich ist. Ihr habt ja gehört, dass die Universität von Rabenfurth die größte Lehranstalt … – was war das?
Wie angewurzelt bleibt ihr stehen und seht euch hektisch um. Ihr habt in jedem Fall etwas gehört, diesmal war es sicher keine Einbildung. Ihr habt die Stimme einer … Frau gehört, natürlich, die Stimme einer Frau, einer jungen Frau, meint ihr. Doch aus welcher Richtung ist sie gekommen? Prüfend seht ihr euch um, während Valken euch verwirrt ansieht.
„Nun … ich weiß schon, dass das hier nicht so interessant ist, aber lassen wir sie nicht warten, sie kann sehr … anstrengend werden, wenn sie warten muss.“
Mit einer Geste bittet ihr den jungen Mann um einen Moment Geduld und seht euch weiter um. Der Gang hier sieht genauso aus wie all die anderen: schmucklos und kühl. Auch hier wurden die Wände vor langer Zeit verputzt und Teile davon bröckeln herab. Der Läufer, auf dem ihr euch bewegt, ist verschmutzt und eingerissen, und die Vorhänge an den Fenstern sind … blutbefleckt. Ihr stutzt, dann nähert ihr euch langsam, um euch zu vergewissern, dass ihr euch nicht täuscht – doch tut ihr das nicht, ganz im Gegenteil. Frisches Blut klebt an einem der Vorhänge, und als ihr eure Blicke in die Richtung, in die ihr unterwegs seid, wandern lasst, könnt ihr weitere Flecken erkennen. Ihr wollt euch gerade einen anderen Fleck genauer ansehen, als ein Schrei die Stille jäh durchbricht – diesmal reagiert auch Valken darauf.
„Das … war Alyssa! Was ist dort los?“
Ihr wartet gar nicht erst lange und sprintet los, dicht gefolgt von Valken, der euch immer wieder mit kurzen Anweisungen den Weg zu eurem Ziel diktiert. Nur eine Biegung weiter führt euch eine Treppe ins Kellergeschoss; an deren Ende kommt euch bereits Alyssa entgegen. Ihre Augen sind vor Schreck geweitet, und ihr seht auch sofort, was der Anlass dafür ist: Ein gewaltiges mechanisches Konstrukt ragt hinter ihr auf, rasiermesserscharfe Klauen blitzen im Fackelschein, und in einer Parodie eines menschlichen Gesichtes flammen glühende Augen. Bevor Alyssa oder Valken etwas sagen können, habt ihr eure Waffen gezogen und stellt euch dem Ding entgegen – was auch immer der Grund hierfür ist kann erst einmal warten, das Monstrum vor euch dagegen nicht.
Mit einem Zischen entweicht noch einmal Dampf aus der mechanischen Gestalt, bevor sie in sich zusammensackt und die glühenden Augen erlöschen. Schwer atmend seht ihr euch um und betrachtet euren Gegner nun zum ersten Mal genauer. Vor euch liegt ein riesiger Mann aus Metall, seine Finger eine Mischung aus Greifklauen und Schwertern. Ihr habt so etwas noch nie gesehen; auch wenn euch dieses Ding an einen Golem erinnert, so wüsstet ihr nicht, wer so etwas bauen kann.
„Ich hab’ Euch ja versprochen … dass Ihr etwas Interessantes zu sehen bekommt …“
Valken tritt neben euch; auch wenn seine Worte wie ein Scherz zu klingen scheinen, ist es klar dass sie kein Scherz sein sollen. Nachdenklich mustert er den mechanischen Mann, berührt ihn an einigen Stellen und schüttelt dann den Kopf.
„Ich habe dieses Ding auf Anweisung meines Onkels hierherbringen lassen. Es sollte womöglich wichtige oder kostbare Fundstücke bewachen … und eigentlich hat es nie Probleme bereitet … Bis jetzt.“
Seufzend reibt er sich den Nacken und betrachtet das Konstrukt noch einmal, bevor er ein weiteres Mal den Kopf schüttelt.
„Seht ihr, das ist eine neue Art von Golem. Eine Mischung aus Technik und Magie. Ich bin kein Archäologe, aber ich habe doch einige Erfahrung in den anderen Bereichen, unter anderem war ich einige Zeit Praktikant bei Hartmut Hohenstein. Dieses Gerät hier basiert auf fortschrittlicher Technik, kombiniert mit klassischer Erweckungsmagie für Golems, es dürfte nicht so … außer Kontrolle geraten.“
Einen kurzen Moment scheint er zu zögern, bevor er fragend den Kopf schief legt und zu euch blickt.
„Was meint ihr? Suchen wir nach einer Ursache für das hier?“