Die Glocken des Uhrturms von Rabenfurth wecken euch am nächsten Tag. Nach einem ausgiebigen Frühstück sammelt ihr eure Ausrüstung ein und tretet hinaus vor das Anwesen. Wie ihr erwartet habt, sind dort nun mehrere Wagen zu finden, alle vollgepackt mit Vorräten, Grabungsutensilien und sonstigem Krimskrams. Einer davon ist komplett abgedeckt, und ihr könnt nur erahnen, was sich darunter verbirgt – vermutlich jedoch eins von Valkens „Spielzeugen“. Der junge Mann ist auch bereits auf den Beinen und gerade in ein Gespräch mit einem Bewaffneten vertieft. Kurz begrüßt euch Valken, der seine Kleidung aus den Rashani-Landen gegen ein ordentliches Paar Stiefel, sowie eine Hose und Weste aus Leder eingetauscht hat. Auf seinem Kopf trägt er einen schwarzen Filzhut und an seiner Hüfte hängt wie erwartet der nicht näher zu identifizierende Prototyp einer Waffe.
„Ah, da seid Ihr ja, ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen!“, ertönt Alyssas Stimme hinter euch.
Als ihr euch ihr zuwendet, erkennt ihr sogleich, dass die junge Halbelfe ebenfalls ihre Kleidung gewechselt – oder zumindest angepasst – hat. Zu den Stiefeln von der Art, wie sie sie damals bei eurer ersten Begegnung getragen hat, hat sich eine enganliegende Seidenhose gesellt und zum Schutz vor der Sonne hat sie eine locker sitzende Halbjacke aus Seide über ihre Schulter geschlungen. Offensichtlich hat einer von euch bei diesem Anblick ein Schmunzeln nicht unterdrücken können, da sie ein wenig errötet, nur um sich dann zu räuspern und euch mit schlecht gespielter Überzeugung anzusehen.
„Ja, ja, schon gut, das sieht vielleicht ein wenig seltsam aus, aber er hat … gesagt … dass das gut gegen die Sonne ist und, nun ja, kühlt … Also … Ach, ich sollte einmal sehen, ob auch alle relevanten Grabungswerkzeuge eingepackt sind – wir unterhalten uns dann während der Reise!“
Rasch macht sie auf der Stelle kehrt, und als euch auffällt, dass sie offensichtlich eine Art Peitsche hinten an ihrem Gürtel befestigt hat, gelingt es euch nur mit Mühe, ein Auflachen zu unterdrücken. Valken tritt in diesem Moment neben euch und reibt sich die Hände.
„Alles klar, wir sind bereit. Meine Bediensteten spannen noch die Pferde vor die Wagen und dann kann’s losgehen. Wie gestern gesagt, sucht Euch einfach noch irgendwo einen Platz oder schnappt Euch eins der freien Pferde.“
Ihr tut also, wie euch geheißen, und verteilt euch auf Wagen und Pferde, bevor sich der ganze Tross in Bewegung setzt und in Richtung Norden aufmacht.
Schnell stellt ihr fest, dass euch eure Route über denselben Weg in die dunklen Lande führt, den ihr das letzte Mal eingeschlagen habt. Ihr macht einen kurzen Halt in Dresoria und füllt noch einmal eure Vorräte auf, bevor es querfeldein weiter Richtung Norden geht. Schon bald bemerkt ihr anerkennend, dass sich Valken tatsächlich seine Gedanken bei der Planung gemacht hat. Wann immer möglich, nehmt ihr einen alten Trampelpfad oder Waldweg, und die Breite der einzelnen Wagen ist offensichtlich so schmal wie möglich gehalten, um auch kleinere Passagen benutzen zu können. Des Weiteren sind Räder und Achsen verstärkt, weshalb auch steinigere Abschnitte kein Problem darstellen. Alles in allem kommt ihr gut voran.
Da eure Reise zu Beginn eher ereignislos verläuft, versucht ihr euch die Zeit, so gut es geht, zu vertreiben, und bald beginnt ihr ein Gespräch mit Alyssa, die auf einem der Wagen inmitten ihrer Forschungsunterlagen sitzt.
„Interessant, interessant, das will ich doch gleich einmal nachprüfen“, murmelt sie vor sich hin und schiebt sich dann ihre kleine Brille wieder zurecht, als sie in ihren Büchern kramt, während ihr von euren Erlebnissen in Yoldat und Raw’lak erzählt. Besonders die Beschreibung der beiden Gestalten aus der Tempelruine scheint es ihr angetan zu haben. Fieberhaft blättert sie in ihren Unterlagen.
„Wisst Ihr, von all dem, was ich bisher herausfinden konnte, passen diese Beschreibungen in jedem Fall auf Xaveria und dann wohl auch auf ihren Ehemann … Wo hab’ ich nur seinen Namen …“
Mit einem triumphierenden Laut zieht sie ein kleines Büchlein aus einem Rucksack und beginnt augenblicklich wild darin herumzublättern, bis sie schließlich fündig wird und mit dem Finger auf eine Seite zeigt.
„Hier hab’ ich’s … Xaveria, die weiße Frau, Herrin über Feuer und Eis. Sie war mit dem Anführer der schwarzen Ritter Éroks verheiratet, einem Schwertmagier namens Serenugar … Habt Ihr den Namen schon einmal gehört?“
Als Alyssa den Namen des Mannes ausspricht, läuft euch ein kalter Schauer über den Rücken und für einen Moment seht ihr einen Tempel, in ein blaues schummriges Licht getaucht. Rund um euch sind die Wände und die Decke mit seltsamen Wandmalereien verziert, die sich ständig zu bewegen scheinen. Als ihr versucht, näher heranzutreten, um zu sehen, was da nun abgebildet ist, tritt mit einem Mal die Gestalt eines bleichen Mannes mit schwarzen Haaren und dunklen Augen aus dem Schatten, ein unheimlich vertrautes Schwert in Händen, welches er langsam in eure Richtung hebt.
„He, alles in Ordnung?“
Alyssas Stimme reißt euch aus euren Gedanken, und unangenehm überrascht stellt ihr fest, dass eure Hände instinktiv zu Narben gleiten, bei denen ihr euch schon oft gefragt habt, woher ihr sie überhaupt habt.
„Ihr habt den Mann gesehen, nicht wahr?“, fährt Alyssa fort, ihre Stimme mit einem Mal leise, fast schon ein Flüstern.
„Ich habe ihn auch gesehen … in meinen Träumen. Und ich habe auch sie gesehen. Sie war … wunderschön … und doch … Irgendwie … hasse ich sie, ich wünsche … ihren Tod. Und dann, dann sehe ich ihn, und … er kommt auf mich zu, seine Augen voller Trauer und Wut, und er hebt sein Schwert … dieses … fürchterliche, schwarze Schwert, und dann …“
Tief atmet die junge Halbelfe vor euch durch, deutlich könnt ihr die Gänsehaut auf ihren Armen sehen.
„Ich denke … dass das ihre Erinnerungen sind“, spricht Alyssa dann wieder leise, „die Erinnerungen der … Frau, deren Geist meinen Körper unter der Universität in Besitz genommen hat. Sie hat Xaveria und ihren Ehemann gekannt und sie hat sie aufs Bitterste gehasst … Ich weiß jedoch nicht, warum …“
Einen Moment starrt die Halbelfe noch ins Leere, ehe sie sanft lächelt und die Schultern zuckt.
„Nun ja. Davon darf man sich nicht verrückt machen lassen, meint Ihr nicht auch? Hier, ich zeige Euch etwas wirklich Verrücktes, passt auf.“
Erneut kramt sie in ihren verschiedenen Rucksäcken und fördert dann mehrere Münzen zutage, die sie euch augenzwinkernd übergibt. Ein wenig verdutzt nehmt ihr sie entgegen, um sie genauer zu betrachten. Der Zahn der Zeit hat unbarmherzig an den Goldmünzen genagt: Immer wieder fehlt ein kleines Stückchen oder ist ein Teil der Inschrift zerkratzt – doch schon nach kurzer Zeit stockt einigen von euch der Atem. Rasch wandern die Münzen von einer Hand zur anderen, bis ihr euch alle davon überzeugen konntet: Auf jedem einzelnen Geldstück prangt eindeutig das Konterfei Ascarios, und darunter ist auch noch die Jahreszahl angegeben – die Zahl dieses Jahres. Verwirrt seht ihr Alyssa an, die junge Frau zuckt jedoch nur die Schultern und nimmt die Münzen wieder entgegen.
„Verrückt, nicht wahr? Ich kann mir das auch nicht erklären. Irgendjemand muss sich wohl einen Scherz erlaubt haben und einige aktuelle Münzen mit sehr viel Mühe täuschend echt verändert haben. Warum er oder sie das allerdings getan hat, kann ich Euch nicht erklären.“
Immer noch verwundert beginnt ihr die unterschiedlichsten Theorien zu spinnen, als ihr wiederum fast gleichzeitig alle innehaltet. Nach all euren Abenteuern habt ihr einen mehr als zuverlässigen Gefahreninstinkt entwickelt – und hier und jetzt stimmt etwas nicht, da seid ihr euch sicher. Rasch packt ihr eure Waffen, macht euch bereit, und noch während euch Alyssa verwundert ansieht, springen mehrere Gestalten hinter nahen Felsbrocken und aus getarnten Gruben am Boden hervor und greifen euch an.
Schwer atmend seht ihr euch um und blickt noch dem Anführer eurer Angreifer hinterher, der im letzten Moment das Weite gesucht hat. Ihr seid euch sicher, dass ihr diesen Mann schon einmal gesehen habt. Als ihr euch die Leichen um euch genauer anseht, wisst ihr auch sofort, wer euch da aufgelauert hat – Klingenspringer! Der Flüchtende war demnach in jedem Fall Tav’en Votoran, ein übler Bursche, der sein Versprechen wahr gemacht und tatsächlich in der Nacht damals nicht diese Welt verlassen hat. Ihr habt schon geahnt, dass ihr ihn früher oder später wieder sehen würdet, doch dass dies so schnell der Fall sein würde, hattet ihr nicht gehofft. Mit einem missmutigen Grummeln tritt dann Valken neben euch, der sich gerade ein Tuch an einen blutenden Schnitt auf seiner rechten Wange hält.
„Verflucht, was sollte das? Seit wann lauern uns Banditen ausgerechnet hier auf? Wir sind nur noch eine Tagesreise von den dunklen Landen entfernt, und bis jetzt lief doch alles so gut!“
Rasch erklärt ihr ihm die Zusammenhänge, woraufhin er sich resigniert seufzend an ein Wagenrad lehnt.
„Mein Onkel ist ein brillanter Händler und ein belesener Sammler. Dummerweise hat er kein Gespür für Menschen. Dass er sich jemals mit Abschaum wie den Klingenspringern eingelassen hat ...“
Kurz schüttelt er den Kopf und sieht sich dann um, bevor er wieder das Wort an euch richtet.
„In jedem Fall können wir nun auch nichts mehr daran ändern. Dieser Überfall hat uns einige Männer gekostet, und so wie es aussieht, werden wir auch einen Wagen zurücklassen müssen. Hoffen wir, dass dies die letzte unliebsame Überraschung auf unserem Weg war … wenngleich ich das nicht unbedingt glaube.“